RENÉ MAYERS KÜNSTLERISCHE LAUFBAHN ZWISCHEN MALEREI UND BILDHAUEREI

Eine im Leben verwurzelte Berufung – nicht in Doktrinen

René Mayer ist kein Künstler aus Familientradition. Er wurde es aus innerer Notwendigkeit, aus einer vitalen Kohärenz heraus, als instinktive Antwort auf einen tiefen Ruf. Nichts in seinem unmittelbaren Umfeld prädestinierte ihn für eine künstlerische Laufbahn. Er stammte aus einem kultivierten, aber wenig kreativ geprägten bürgerlichen Milieu und fand in seinem familiären Umfeld weder Vorbilder noch Ermutigung. Erst viel später versuchte sich sein autodidaktischer Stiefvater in Malerei und Bildhauerei, ohne dies jedoch jemals zu seiner Hauptbeschäftigung zu machen. René Mayers Antrieb kam von anderswo. Er wurzelte in einer frühen Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Ausdruck und dem Widerstand gegen Konformismus, in dem starken Wunsch, die Welt auf seine eigene Weise zu bewohnen und ausgetretene Pfade zu meiden.

Er wurde 1947 in Basel geboren und wuchs in dieser einzigartigen Grenzstadt auf, die von vielen Sprachen, Einflüssen und Mentalitäten geprägt ist. Der Rhein, eine fliessende und symbolische Verkehrsader, verbindet Basel mit Frankreich und Deutschland. Basel geniesst somit eine privilegierte Lage, die die Stadt zu einem wichtigen kulturellen Knotenpunkt macht – und damit zu einem Muss für jeden Besucher. In diesem europäischen Mikrokosmos, geprägt von humanistischer Toleranz und einem diskreten, aber hartnäckigen Kosmopolitismus, formt René Mayer seinen Blick. In Basels Cafés hört man Basler Dialekt, Hochdeutsch, Französisch und Englisch; man diskutiert ebenso lebhaft über Erasmus wie über Jean Tinguely oder Pipilotti Rist. Die Museen sind reich an symbolistischen Meisterwerken, zeitgenössischen Experimenten und unglaublich wertvollen Privatsammlungen. René Mayer ist kein einfacher Betrachter, sondern taucht in dieses lebendige Gefüge ein.

Kunst wird für ihn bald zu einer Lebensweise: eine Art, die Welt zu sehen, zu fühlen und zu verstehen. Die gesamte Karriere dieses Künstlers, der sich zwischen Malerei und Bildhauerei bewegt, lässt sich in diesem Satz zusammenfassen. Schon früh von Formen, Volumen und Farben fasziniert, wandte er sich zunächst der angewandten Kunst zu. An der Schule für Gestaltung Basel, einer direkten Erbin des Bauhaus-Geistes, erhielt er eine ebenso strenge wie anregende Ausbildung. Dort wurde gelehrt, dass Kunst mit dem Respekt vor dem Material, der Beherrschung der Gesten und dem Verständnis des Prozesses beginnt. René Mayer lernte dort die Klarheit des Strichs, die Präzision der Zeichnung und den Ausdruckswert einer gut gesetzten Linie. Er begegnete den Gedanken von Johannes Itten und Josef Albers – nicht als blinde Vorbilder, sondern als Impulsgeber für Experimente. Der Unterricht war nicht dogmatisch, sondern offen: Jeder Schüler wurde aufgefordert, seine eigene Kohärenz zu suchen und die Hand zu einem Instrument des Denkens zu machen.

Unter der Leitung von Alfred Gruber, einem österreichischen Bildhauer und Weggefährten von Hans Arp, entdeckt er die Freude am Risiko, an der Improvisation und an der Form in Bewegung. In einem ehemaligen Steinbruch, den Gruber in ein Kunstatelier umgewandelt hat, lernt er, dem Material ebenso zuzuhören wie es zu formen. Die Geste wird zur Suche, die Form zur Intuition. Dies war einer der Wendepunkte in seinem künstlerischen Leben. Hier zeichnete sich ab, was später sein Markenzeichen werden sollte: ein Formdenken, das im Tun, in der Hand, im Gewicht der Dinge verankert ist. Ein Volumentdenken, dass sich nicht der Intuition entgegenstellt, sondern sich aus ihr nährt. Für René Mayer ist Form niemals dekorativ. Sie ist Sprache. Sie ist eine Art zu atmen, zu existieren.

Eine errungene Freiheit – eine geduldige Praxis

Lange bevor er sich ganz seiner künstlerischen Karriere widmete, schlug René Mayer einen für einen Maler und Bildhauer eher unkonventionellen Weg ein: In den 1970er Jahren gründete er einen Grosshandel für Tischkultur. In einem Umfeld, in dem Lebensart, Stil und Funktionalität zunehmend mit den ästhetischen Ansprüchen des Alltags verschmelzen, gründet und leitet René Mayer ein Unternehmen, das sich schnell und nachhaltig entwickelt. Dabei wendet er die Prinzipien an, die er in der Kunstschule gelernt hat: klare Formen, einfache Linien, präzise Handgriffe, Aufmerksamkeit für das Material.

Seine Strenge, sein Sinn für visuelle Ausgewogenheit und seine Fähigkeit, die Erwartungen eines Publikums mit Sinn für dezente Eleganz zu antizipieren, verschafften ihm einen kommerziellen Erfolg, der ihn schnell zu einem der Marktführer in seinem Segment machte. Über den wirtschaftlichen Erfolg hinaus bestärkt ihn dieses Abenteuer jedoch in einer grundlegenden Überzeugung: Es ist möglich, handwerkliche Ansprüche und Effizienz, Schönheit und Nützlichkeit, freie Kreativität und Fertigungsdisziplin miteinander zu vereinbaren. Diese Erfahrung bekräftigt einen seiner wichtigsten Lebensgrundsätze: Gleichgewicht entsteht nicht aus dem Konflikt der Gegensätze, sondern aus ihrer Begegnung. René Mayer stellt die Logik des Marktes nicht der Logik der Kunst entgegen; er sieht das Unternehmen nicht als eine Welt, die der Welt der Kreativität fremd ist. Für ihn ist kommerzielle Disziplin kein Hemmnis, sondern ein Rahmen, in dem echte Liebe zum Detail entstehen kann. Diese Liebe zum Detail zieht sich übrigens durch alle seine späteren Werke.

In der Präzision eines handgemalten Jetons, im exakten Schnitt eines Granitsockels, in der stillen Spannung eines skulpturalen Blicks spürt man den Einfluss dieser Kultur der guten Arbeit, die in seiner beruflichen Laufbahn verwurzelt ist. Es ist auch dieser unternehmerische Erfolg, der ihm die Freiheit gibt, sich von materiellen Zwängen zu befreien und einen anderen Lebensrhythmus zu wählen. Während viele Künstler seiner Generation immer mehr Zugeständnisse machen müssen, ohne den erhofften Erfolg zu erzielen, kann sich René Mayer kompromisslos auf seine Praxis konzentrieren, abseits der Mainstream-Kreise – und das in seinem eigenen Tempo. Fast fünfzig Jahre lang malt und modelliert er, ohne jemals nach Ausstellungsmöglichkeiten zu suchen. Dieser Rückzug aus der Kunstwelt ist weder eine Ablehnung noch eine Haltung, sondern eine Form der Treue zu sich selbst. Er verspürt weder das Bedürfnis, gesehen zu werden, noch das, anerkannt zu werden. Er hat keine Eile, sich den Erwartungen eines Milieus anzupassen, sich in einer Szene zu positionieren, eine Karriere aufzubauen. Er zieht es vor, in der Einsamkeit seines Ateliers seinen eigenen Weg zu gehen. Dort, im wechselnden Licht des italienischen Piemont, zwischen Hügeln und Nebel, gestaltet er geduldig ein Werk nach dem anderen.

Sein Atelier in Bubbio wird zu seinem kreativen Gravitationszentrum: ein Ort der Konzentration, der Entäusserung, des Zuhörens. Jede Leinwand, jede Skulptur entsteht dort aus einem intimen Dialog mit den Materialien. Acryl, Pigmentpulver, Ton, Marmor, Holz, Leinen: Nichts wird dem Zufall überlassen, alles ist durchdacht, aber ohne Dogmatismus. Für René Mayer ist Kunst keine Anhäufung von Ergebnissen, sondern eine Reihe lebendiger Prozesse. Die Form offenbart sich nicht plötzlich: Man muss sich ihr Schicht für Schicht, Anpassung für Anpassung nähern. Die Handgriffe sind langsam, präzise, angespannt. Jede Oberfläche wird so lange bearbeitet, bis ein Gleichgewicht erreicht ist. Die Zeit ist Teil des Werks. Nichts ist unmittelbar. Es geht nicht darum, ein Werk zu vollenden, sondern es bis zum Ende zu leben. Diese tägliche Disziplin, diese Treue zur Arbeit verleihen seinem Œuvre eine seltene Dichte. Seine Werke wollen nicht verführen: Sie präsentieren sich in Stille, mit einer ruhigen Intensität. Sie tragen die Spuren dieser Geduld, dieser Freiheit – einer Freiheit, die nicht gegen die Welt errungen wurde, sondern fernab von ihrem Lärm.

Bilderserien die sich um grosse Fragen strukturieren

Die Malerei von René Mayer ist entschieden abstrakt, aber sie hat nichts von einer formalistischen Übung, die losgelöst von der Realität ist. Sie vermittelt einen scharfen Blick auf die Welt, auf die Veränderungen, die sie durchlaufen, und auf die stillen Spannungen, die unsere Zeit prägen. Entgegen spektakulären Effekten und lautstarken Diskursen komponiert René Mayer geduldig Serien, die sich über mehrere Jahre entwickeln. Jede Serie artikuliert eine Reflexion, nicht durch Worte, sondern durch chromatische Spannungen, präzise Gesten und Materialien, die wie Sprachen gedacht sind. Er versucht nicht, eine Idee zu illustrieren, sondern lässt sie durch langsame Ausarbeitung aus der Leinwand selbst hervortreten. Seine Werke offenbaren sich nicht auf den ersten Blick, sondern erfordern Aufmerksamkeit, Zeit und innere Verfügbarkeit.

Die Serie „Schleichende Veränderung“ ist vielleicht das symbolträchtigste Beispiel dafür. Jede Leinwand, die Schicht für Schicht in einem Wechsel zwischen Kontrolle und Loslassen entsteht, enthält Hunderte von Casino-Chips – alle in zwei Farben bemalt, von denen eine die andere allmählich verdrängt – die dann in die Bildfläche integriert werden. Diese massenhaft produzierten, austauschbaren und kalten Objekte werden bei René Mayer zum Symbol eines unbewussten und kollektiven Spiels mit dem ökologischen Gleichgewicht. Der Chip verweist von Natur aus auf den Verlust der Kontrolle, auf das Wagnis, auf die Verblendung. Indem er sie in seine abstrakten Kompositionen integriert, schafft René Mayer kein Werk der Anklage, sondern eine stille Formgebung unserer Beziehung zum Risiko. Die Schönheit seiner Bilder, ihre chromatische Ausgewogenheit und ihre taktile Sinnlichkeit stehen im Kontrast zur Schwere des Themas. Diese Spannung zwischen Ästhetik und Ethik steht im Mittelpunkt seines Schaffens. Nichts ist frontal, alles ist in Halbtönen gehalten, in subtilen Verschiebungen, wie die langsamen Veränderungen, die wir nicht kommen sehen – und die doch die Welt verändern.

In „Bewegte Erde“ dominiert die Metapher der Erde. Die Oberflächen sind zerknittert, zerfurcht, als würden sie von unsichtbaren Kräften von innen heraus angehoben. Man denkt an tektonische Platten, an Erdbeben, an Erhebungen. Aber es geht auch um uns: um unsere gespannten Gesellschaften, um unsere kollektive Fragilität, um diese unsichtbaren Erschütterungen, die unser Leben neugestalten. Die Materie wird hier nicht einfach nur bearbeitet: Sie ist bewohnt. René Mayer gibt ihr eine aktive, fast lebendige Rolle. Das Substrat, die Pigmente, die Pulver und die verwendeten Beschichtungen bilden eine fragile, manchmal nervöse Haut, die die Instabilität der Welt durchscheinen lässt. Mit der Serie „Endlichkeit“ wechselt René Mayer das Register, aber nicht seine Absicht. Hier hinterfragt er die Schönheit als Maske. Seine Oberflächen glänzen, ziehen den Blick auf sich, aber was sie verbergen, ist Erosion, die Zerbrechlichkeit des Körpers, das Vergehen der Zeit. Die visuelle Verführung ist eine vorübergehende Illusion. Hinter den Reflexionen bröckelt etwas. Man spürt eine stille Kritik an künstlichen Idealen, an festgefahrenen Darstellungen, an der Ausblendung des Alterns in unseren heutigen Gesellschaften.

Die Werke dieser Serie sprechen von Erscheinung, von Oberfläche, aber auch von dem, was diese Oberflächen zu verbergen versuchen – und was unweigerlich wieder zum Vorschein kommt. Die Serie „Kasten“ untersucht hingegen den Begriff der Einrahmung. Jedes Bild spielt mit einer Struktur, die beruhigend oder befremdlich wirken kann. Handelt es sich um einen Schutzraum, einen sicheren Ort? Oder im Gegenteil um eine mentale Einfriedung, eine Form der Isolation, einen Rückzug? René Mayer spielt hier mit Grenzen: zwischen innen und aussen, zwischen Begrenzung und Befreiung. Er hinterfragt, was wir Freiheit nennen, aber auch die Bedingungen dieser Freiheit. Mit „Augen“, begonnen in den 1990er Jahren, rückt René Mayer den Blick in den Mittelpunkt. Nicht den theoretischen Blick, sondern den gelebten Blick, den man auf den anderen wirft, den man empfängt. Die Bilder dieser Serie zeigen stumme Präsenzen, sich überlagernde, flüchtige, konfrontierte Blicke – rätselhaft. Es wird die gesamte Problematik der Wahrnehmung thematisiert: Was bedeutet Sehen? Gesehen werden? Wie prägt diese Gegenüberstellung unsere Beziehung zur Welt und zu uns selbst? Man spürt darin das Echo einer Reflexion über die Malerei selbst als Medium des Blicks. Die Serie „Experimente“ schliesslich umfasst zahlreiche kleine quadratische Formate sowie einige grossformatige Werke, in denen René Mayer frei mit Farbkombinationen, Texturkontrasten und Rhythmusvariationen spielt.

Diese oft zurückhaltenden Werke sind wie stille Laboratorien. Sie zielen nicht auf Demonstration, sondern auf Versuch, Verschiebung, Modulation. Man erkennt darin die Spuren eines sich ständig bewegenden Prozesses, eines plastischen Denkens, das niemals erstarrt, sondern immer weitersucht. In all diesen Serien kommt es weder auf das Konzept noch auf die Botschaft an, sondern auf die Präsenz. René Mayer malt nicht, um eine Idee zu illustrieren: Er malt, um einer Wahrnehmung, einer Spannung, einer Unruhe Gestalt zu geben. Seine Abstraktion ist eine Einladung, langsamer zu werden, anders zu schauen, einen Raum zu betreten, in dem man nicht sofort weiss, was man denken soll. Ein Raum des aktiven Zweifels, der fruchtbaren Stille, in dem sich das Denken direkt auf der Oberfläche formt.

Gesellige Skulpturen – organisch und geometrisch gestaltet

In René Mayers Schaffen nimmt die Skulptur einen wesentlichen Platz ein, der die Malerei ergänzt, aber nicht auf sie reduzierbar ist. Sie ist weder eine Nebenbeschäftigung noch eine dreidimensionale Illustration seiner Gemälde, sondern ein eigenständiges Forschungsgebiet, eine körperliche Fortsetzung seiner formalen Suche. Zwei bedeutende Skulpturenserien verkörpern dieses Streben: „Viva Viva“ und „Marmor & Granit”. Beide entstehen aus dem gleichen Anspruch heraus: Form zu einer Sprache zu machen, Volumen zu einem Raum der Beziehungen, Material zu einem Ort der sinnlichen Befragung.

Die Serie „Viva Viva“ aus bemalter Terrakotta ist eine bewusst fröhliche Feier des Lebens. Sie zeichnet sich durch eine farbliche Üppigkeit, eine Sinnlichkeit der Formen und eine Unmittelbarkeit der Verbindung aus. Die Skulpturen werden in langen, intensiven Sitzungen von Hand geformt, in denen die Arbeit sich in eine Art farbige Trance verwandelt. Inspiriert sowohl von der mexikanischen Volkskunst – ihren archaischen Statuetten, naiven Heiligen und klaren Farben – als auch von den fantasievollen Figuren des Basler Karnevals, bietet „Viva Viva“ eine Galerie von Figuren, die zugleich fröhlich und vieldeutig, burlesk und tiefgründig sind. Sie schauen nicht, oder besser gesagt: Sie schauen ohne Augen. Die Augenhöhlen sind ausgehöhlt, die Gesichtszüge stilisiert, wie bei den Masken der Fasnacht (Karneval). Die Figuren beugen sich vor, berühren sich, streifen sich. Sie sind nicht in Feierlichkeit erstarrt, sondern strecken sich dem anderen, einem Anderswo entgegen. Es scheint, als würden sie zwitschern, rascheln, sich lautlos unterhalten. Ihre klaren Farben – intensives Rot, Blau und Grün – unterstreichen ihre Lebendigkeit. Alles hier spricht von Energie, Pulsation, Interdependenz.

Im Kontrast dazu erkundet die Serie „Marmor & Granit“ eine radikal andere Ästhetik, die puristischer, stiller, aber ebenso lebendig ist. Die Figuren, die sie versammelt, sind hier hieratisch, in einer langsamen, mineralischen, archetypischen Zeitlichkeit verankert. René Mayer stützt sich dabei auf ein formales Vokabular aus der primitiven Kunst – afrikanische Skulpturen, polynesische Idole, archaische Büsten aus der griechischen Antike –, ohne jedoch jemals in Zitate oder Imitationen zu verfallen. Was ihn interessiert, ist die enthaltene Kraft, die Reduktion auf das Wesentliche, die Verdichtung der menschlichen Präsenz in nüchternen, massiven, dichten Formen. Einige Skulpturen zeigen einen einzigen Kopf mit einem einzigen, riesigen, zyklopischen Auge; andere zeigen zwei Profile, die einander zugewandt sind – oder gegeneinander –, wie ein Paar, das in der Spannung einer Verbindung gefangen ist. Wieder andere sind gespalten, ausgehöhlt, stumm. Es gibt weibliche Büsten, bei denen das Auge den Kopf ersetzt, wie eine Reminiszenz an die „Augen“, jene Bilderserie, in der der Blick zur Metapher des Selbst wird.

Der Schaffensprozess folgt hier einer strengen Methode: René Mayer modelliert zunächst jede Skulptur in Ton im kleinen Massstab. In dieser Phase entscheidet sich das Wesentliche: die Wahl des Rhythmus, die Spannung der Massen, der Atem der Form. Ton ermöglicht Intuition, Ausprobieren und Überarbeiten. Sobald das Modell fertig ist, wird es an Bildhauerwerkstätten in Indien weitergegeben, die auf das Bearbeiten von Marmor- oder Granitblöcken spezialisiert sind. Die hochqualifizierten Handwerker setzen das Modell um. Dabei handelt es sich nicht um eine einfache technische Übertragung, sondern um eine Weitergabe der Absicht. Jede Ader im Stein, jede Rundung, jede polierte oder raue Oberfläche wird als ausdrucksstarkes Element betrachtet. Der edle, schwere Stein wird so zum Gefäss für eine zurückhaltende Emotion, für ein erreichtes Gleichgewicht.

Die behandelten Themen sind das Paar, die Anziehung, die Andersartigkeit. Aber René Mayer stellt nicht dar, er suggeriert. Die Erotik kommt auf einer zweiten Ebene zum Vorschein, ohne Nacktheit; die Spannung zwischen männlich und weiblich lässt sich in den feinen Linien, in den Gegensätzen der Massen, in der Frontalität oder der Zurückgezogenheit erahnen. Oft ist auch eine Art Abwesenheit des Körpers zu spüren – als ob nur die wesentlichen Elemente übrigblieben: der Kopf, die Beine, manchmal ein stilisierter Torso. Diese bewusste Reduktion spricht von Universalität: Die Figuren werden zu Zeichen, fast zu Ideogrammen. Weit entfernt von Anekdoten laden sie zum Nachdenken über das Menschsein, den Blick, die Interaktion ein. Im piemontesischen Garten von René Mayer stehen diese Skulpturen im Dialog mit dem Licht, dem Wind und den Jahreszeiten. Die Sonne wärmt sie, der Regen streichelt sie, der Schnee hüllt sie ein. Die Patina der Zeit macht sie zu lebendigen, sich wandelnden Werken, die langsam von ihrer Umgebung verändert werden. Sie sind nicht für Museen konzipiert, sondern als freundliche Begleiter gedacht, ähnlich wie aufgestellte Steine, rituelle Grenzsteine oder stille Wächterfiguren. Auch hier ist für René Mayer die Verbindung zwischen Form und Ort, zwischen Hand und Material, zwischen Gedanken und Geste wichtig. Er formt keine Objekte, sondern verleiht Präsenzen Gestalt.

Ausstellungen – eine späte Anerkennung mit nachhaltiger Wirkung

Während seiner gesamten künstlerischen Laufbahn, also mehr als fünfzig Jahre lang, malte und bildhauerte René Mayer in aller Diskretion. Er strebte nie danach, seine Werke auszustellen oder sich in institutionelle Kunstkreise zu integrieren. Dieser Rückzug war nicht das Ergebnis einer Strategie, sondern einer existenziellen Haltung: Was ihn interessierte, war der Akt des Schaffens selbst, nicht dessen Verbreitung. Doch ab 2021 ändert sich alles. Seine bisher im Verborgenen gebliebenen Werke beginnen zu zirkulieren. Die öffentliche Anerkennung kommt zwar spät, beginnt aber fast zufällig und findet schnell unerwartete Resonanz.

Alles beginnt in Bergolo, einem winzigen piemontesischen Dorf in den Hügeln der Langhe. Beeindruckt von der Kraft der Werke von René Mayer, organisiert ein Kurator, der sie fast zufällig entdeckt hat, in der stillgelegten Kapelle San Sebastiano seine erste Ausstellung. Die Veranstaltung, die zunächst nur als temporär geplant war, wird um einige Wochen verlängert. Der zwar bescheidene Ort erweist sich als Schauplatz einer entscheidenden Begegnung zwischen den Werken von René Mayer und einem neugierigen, offenen Publikum ohne Vorurteile. Diese erste Ausstellung war ein Offenbarungserlebnis: Was René Mayer in Einsamkeit geschaffen hatte, berührte sofort und tief. Nichts war darauf ausgelegt, zu gefallen, und doch war die Wirkung da. Ein Dialog begann. Gestärkt durch diese erste Erfahrung beschloss René Mayer, einen dauerhaften Raum zu schaffen, nicht um sich selbst in den Vordergrund zu stellen, sondern um den noch unbekannten künstlerischen Stimmen des Piemonts eine Plattform zu geben.

Im Jahr 2023 gründet er den SAB – Spazio Arte Bubbio – in einer stillgelegten Weinkellerei in dem Dorf, in dem er sein Atelier hat. Der Ort wird schnell zu einem Treffpunkt für aufstrebende Künstler und neugierige Besucher. René Mayer stellt dort seine Werke in Zyklen aus, abwechselnd mit anderen Künstlern, die er unterstützt oder entdeckt hat. Der SAB versteht sich nicht als Schaufenster, sondern als Ort des Austauschs und der Resonanz, ganz im Sinne der Praktik seines Gründers: anspruchsvoll, rigoros, aber zutiefst auf den anderen ausgerichtet.

Das Jahr 2024 markiert mit der Ausstellung „Schleichende Veränderung“ einen Wendepunkt. Die Auswahl von 30 abstrakten Werken aus jüngerer Zeit wurde gemeinsam mit dem verstorbenen Professor Luca Beatrice, dem ehemaligen Präsidenten der Quadriennale di Roma, zusammengestellt. Die Ausstellung, die im SAB selbst stattfand, sorgte in der Kulturpresse des Piemont für Schlagzeilen. Luca Beatrice ordnet die Arbeit von René Mayer von Anfang an in eine internationale Reflexion über die zeitgenössischen Entwicklungen der Abstraktion ein. Er hebt die Besonderheit der Arbeit von René Mayer hervor: eine dichte, zutiefst engagierte Malerei, die niemals aufdringlich ist und in der sich die Veränderungen – ökologische, wahrnehmungsbezogene, kulturelle – in der Materie selbst niederschlagen. Beatrice‘ Kuratierung findet in der Kunstszene Widerhall, und die Ausstellung wird zu einem Meilenstein in der Laufbahn des Künstlers. Es folgen mehrere Ausstellungen, die diese wachsende Anerkennung festigen.

Ende 2024 nimmt René Mayer in Vevey an der Gruppenausstellung ‚Artistes unis pour l’eauteil, die von der Galerie Fresa y Chocolate in Zusammenarbeit mit der NGO What Water organisiert wird. Dort präsentiert er eine Reihe von Werken mit dem Titel „Schleichende Veränderung“ in denen Casino-Chips das tödliche Spiel symbolisieren, das unsere Zivilisation mit der Umwelt spielt. Der symbolische Aspekt seiner Arbeit findet im Rahmen der Ausstellung besonderen Widerhall.

Im Jahr 2025 ermöglicht ihm seine Teilnahme an der Ausstellung ‚Kesişmeler | Intersections‘ in Istanbul, die von der Vision Art Plattform organisiert und von Fırat Arapoğlu kuratiert wurde, die Grenzen der Schweiz und Italiens zu überschreiten. Seine Werke werden an der zentralen Wand der Galerie ausgestellt, was seine starke Positionierung in der Szenografie unterstreicht. GQ Turkey berichtet über das Ereignis und widmet dem ‚diskreten, aber eindringlichen‘ Schweizer Künstler, dessen bemalte Jetons zu Objekten der Meditation werden, einen Artikel. Dieser erste Schritt auf der türkischen Bühne eröffnet Perspektiven für zukünftige Kooperationen.

Im selben Jahr präsentiert er in Baar (Schweiz) eine Einzelausstellung mit dem Titel „Happy Anxiety“ im AtelierRoshi. Zum ersten Mal kombiniert René Mayer hier seine beiden kontrastreichsten Serien: die Statuetten „Viva Viva“ und die Gemälde „Schleichende Veränderung“. Diese unerwartete Verbindung zwischen der lebhaften Verspieltheit von „Viva Viva“ und der stillen Kritik von „Schleichende Veränderung“ offenbart eine bisher unbekannte Facette seines Werks: seine Fähigkeit, starke emotionale Spannungen in sich zu tragen, ohne sie jemals frontal gegeneinander auszuspielen. Die Ausstellung wird für ihre Treffsicherheit gelobt.

Im Juni 2025 widmet ihm die Galerie Hergiswil schliesslich seine erste grosse Retrospektive: „René Mayer. Paintings and Sculptures“. Die Ausstellung umfasst 17 Gemälde und 27 Skulpturen, die alle seine wichtigsten Serien abdecken. Der szenografische Rundgang hebt die inneren Zusammenhänge seines Werks hervor: Der Blick in „Augen“ findet seine Entsprechung in den skulpturalen Büsten von „Marmor & Granit“, die vibrierenden Oberflächen von „Bewegte Erde“ korrespondieren mit den fröhlichen Figuren von „Viva Viva“. Das Publikum entdeckt die Bandbreite einer rigorosen, über langen Zeit hinweg aufgebauten Werks von grosser formaler Kohärenz. Für viele ist es eine Offenbarung. Für René Mayer ist es einfach die Fortsetzung einer Geste, die er nie unterbrochen hat.

Eine Praxis die Handwerk mit Wahrnehmung und Ethik verbindet

René Mayer erhebt keinen Anspruch. Er will weder schockieren noch sich einem Trend anschliessen oder seine Handlungen theoretisieren. Sein Werk ist weder ein Manifest noch eine Reaktion. Es ist die logische Konsequenz einer anspruchsvollen Beziehung zum Material, zur Welt und zu sich selbst. In einem von Diskursen übersättigten künstlerischen Kontext wählt er das Schweigen. In einer von Schnelligkeit dominierten Welt setzt er auf Langsamkeit. In einem auf Sichtbarkeit ausgerichteten System zieht er sich zurück. Das ist keine Haltung, sondern eine Notwendigkeit. Er folgt keiner Schule, keiner Strömung, keiner Erwartung: Er folgt der Form und dem, was sie ihm sagt.

Was er Schicht für Schicht, Tag für Tag aufbaut, ist das Ergebnis absoluter Aufmerksamkeit für kleinste Veränderungen, subtile Anpassungen und die Präsenz des Körpers bei der Arbeit. Er bezeichnet sich ausdrücklich als Handwerker. Dieses Wort ist für ihn weder ein Akt der Bescheidenheit noch eine Ablehnung der künstlerischen Aura, sondern ein wesentliches Bekenntnis. Handwerker zu sein bedeutet, im Tun, im Konkreten, in der Liebe zum Detail zu sein. Es bedeutet, nach der richtigen Anpassung, nach der Kohärenz zwischen Geste und Absicht zu suchen.

Für René Mayer bedeutet Schaffen Verwandlung: die Verwandlung der Materie, die Verwandlung der Wahrnehmung, manchmal auch die Verwandlung des Blicks desjenigen, der das Werk betrachtet. Es ist auch eine grundlegende Art, in Beziehung zu treten. Das Werk ist kein in sich geschlossenes Objekt, sondern ein Raum der Beziehung. Es erzeugt eine Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem, was gezeigt wird, und dem, was sich verbirgt, zwischen der formenden Hand und dem empfangenden Auge. Es will nicht überzeugen, sondern einen Zustand der Aufmerksamkeit, der gesteigerten Wahrnehmung herbeiführen. In ihren Gemälden und Skulpturen wird die Stille aktiv. Die Werke begnügen sich nicht damit, einfach nur da zu sein: Sie rufen. Sie laden dazu ein, den Fluss anzuhalten, langsamer zu werden, wirklich hinzuschauen. Sie vermitteln keine Botschaft, verkünden nichts, beweisen nichts. Sie stehen da, unbeweglich, vibrierend – eindringlich. Sie schauen uns an. Sie bieten uns eine andere Zeitlichkeit an: die des Rückzugs, der Dichte, des Sinnlichen. Sie versuchen nicht, den Raum einzunehmen, sondern ihn zu bewohnen. Sie erinnern uns daran, dass das Wesentliche nicht immer sichtbar ist, dass das, was verändert, nicht immer spektakulär ist, und dass das, was uns am tiefsten berührt, oft das ist, was am leisesten spricht.

Darin liegt vielleicht die Kraft von René Mayers Werk: in seiner Fähigkeit, uns zu entwaffnen, ohne uns zu verletzen, uns zu wecken, ohne uns zu zwingen. Er versteht sich nicht als engagierter Künstler im militanten Sinne, aber seine Arbeit ist eminent ethisch. Durch die Materie hinterfragt er unsere Art, in der Welt zu leben. Er erforscht durch die Form unsere Art zu sehen, zu fühlen und zu reagieren. Er gibt uns keine Antworten, sondern schafft die Voraussetzungen für eine innere Bewegung. Er fordert uns auf, da zu sein, präsent und aufmerksam – für die Tiefe eines Pigments, die Spannung eines Volumens, das Gleichgewicht einer Leere. So entfaltet sich der einzigartige Werdegang von René Mayer. Ein Werdegang, der von stiller Hartnäckigkeit, Treue zu einer inneren Linie und der Ablehnung von Abkürzungen geprägt ist. Eine Karriere zwischen Malerei und Skulptur, zwischen gewählter Isolation und Offenheit für das, was um uns herum geschieht. Ein Werk, das in Einsamkeit entstanden ist, aber auf die Welt ausgerichtet ist. Eine diskrete, aber zutiefst wirksame Praxis. Eine geduldige, unermüdliche Suche nach der richtigen Form, nach einer aufrichtigen Verbindung, nach einer aktiven Schönheit – einer Schönheit, die sich nicht aufdrängt, sondern verwandelt.

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