Ein Grundthema – Zufall als existenzielles Prinzip.
Der Zufall in der zeitgenössischen Kunst wird oft durch formale Praktiken angesprochen: Zufallstechniken, Improvisationen, Eingriffe von aussen oder die Dekonstruktion bewusster Entscheidungen. Doch bei René Mayer beschränkt sich der Zufall nicht auf eine Methode. Er wird zu einem Thema, einem philosophischen Prinzip. Mit seiner Serie „Schleichende Veränderung“ macht der Schweizer Maler und Bildhauer den Zufall in der zeitgenössischen Kunst zu einem Schlüssel für die Interpretation unserer Zeit, unserer menschlichen Kondition und unserer kollektiven Blindheit gegenüber den Risiken, die wir erzeugen.
Die Wahl des Casino-Chips als zentrales Motiv in dieser Serie ist kein Zufall – eben nicht. Er vereint eine ganze Reihe von Bedeutungen in sich: natürlich den Zufall, aber auch Spekulation, Kontrollverlust, den Glauben an das Glück und die zeitgenössische Art und Weise, unsere Verantwortung an Kräfte zu delegieren, die wir angeblich nicht beherrschen können. Der Jeton ist hier kein formales Werkzeug oder eine visuelle Koketterie. Er ist ein Bedeutungsträger. In den Bildern von René Mayer reiht er sich aneinander und wiederholt sich. Er bildet kalibrierte, abstrakte Flächen, aber jedes Element erinnert daran, dass ‚wir mit der Erde spielen, als wäre sie ein Kasino‘, um die Worte des Künstlers selbst zu zitieren.
Diese Wahl ist nicht nur ästhetisch, sondern auch konzeptuell. Indem er ein Symbol des Spiels und der Wette im Herzen der Komposition installiert, hinterfragt René Mayer, wie die heutigen Gesellschaften den Faktor der Unvorhersehbarkeit in ihre Strukturen integrieren – oder sich weigern, ihn zu integrieren. In einer Welt, die mit Daten, Algorithmen und vorhersagenden Simulationen gesättigt ist, stört der Zufall, weil er sich entzieht. Aber er ist da, unausrottbar. René Mayer versucht nicht, ihn zu zähmen oder ihn absolut zu setzen: Er zeigt ihn in seiner nackten Realität, als eine Bedingung der menschlichen Existenz, eine Spannung zwischen Berechnung und Unbekanntem.
Der Zufall in der zeitgenössischen Kunst wird aus dieser Perspektive zu einem Spiegel unserer Zeit: einer Zeit, die die Idee der totalen Kontrolle aufgegeben hat, aber Schwierigkeiten hat, die Konsequenzen ihrer eigenen Spiele zu akzeptieren. René Mayer moralisiert nicht. Er inszeniert das Chaos nicht. Er zeigt dessen winzige Spuren, die fast unsichtbaren Abweichungen, die langsame Erosion der Orientierungspunkte. Was er vorschlägt, ist eine visuelle Reflexion über die Zerbrechlichkeit von Gleichgewichten – eine Art, die Verletzlichkeit menschlicher Systeme in die Form zu schreiben. Wie Arthur Danto betonte, enthält jedes Kunstwerk eine implizite Philosophie: Hier drückt sie sich in der zarten Kluft zwischen dem, was wir zu kontrollieren glauben, und dem, was uns entgleitet, aus.
Eine neue Praxis – Malen mit dem Zufall
Seit 2024 hat René Mayer ein neues Element in seine Praxis eingeführt: die Verwendung eines Pendels mit einer Vorrichtung zum Zerstreuen von Farbe. Dieses Pendel, das über der Leinwand hängt, wird in eine kreisförmige oder lineare Bewegung versetzt und zieht auf der Oberfläche eine unvorhersehbare Bahn, die sowohl von den Gesetzen der Physik als auch von den Mikrovariationen der ursprünglichen Geste diktiert wird. Das Ergebnis sind Farbgarben, die weder geplant noch reproduziert werden können.
Diese scheinbar spielerische Technik beruht auf einer strengen Logik. René Mayer delegiert nicht die gesamte Schöpfung an das Pendel: Er wählt die Farben, die Positionen und die Geschwindigkeiten. Er bereitet den Kontext vor. Aber dann akzeptiert er, was die Bahn produziert. Auch hier geht es nicht um einen spektakulären Effekt, sondern um einen diskreten Dialog mit dem Unvorhersehbaren. Diese Geste ist konstitutiv für den Geist der „Schleichende Veränderung“: Sie integriert den Zufall nicht als Bruch, sondern als Information.
Indem René Mayer diese freien Streuungen mit den starren Rastern der Spielmarken kombiniert, überlagert er zwei Logiken: die der Kontrolle (die Wiederholung, das Raster, der Rahmen) und die des Zufalls (der Wurf, das Fliessen, das Driften). Er wählt nicht zwischen den beiden. Er setzt sie in Spannung, lässt sie in ein und demselben Bild zusammenleben. Dabei bringt er visuell die Dualität zum Ausdruck, die uns innewohnt: unser Wunsch, alles vorherzusehen, und unsere chronische Unfähigkeit, vorauszusehen.
Das Pendel wirkt hier wie ein Enthüller. Es erschafft keine Form, sondern setzt sie frei. Und diese Form, die von Zufälligkeiten durchzogen ist, bringt die geordnete, erstarrte Oberfläche früherer Kompositionen ins Wanken. Sie führt das Lebendige, das Unbeständige, das Zittern wieder ein – ohne das Ganze zu zerstören. Es ist eine Ästhetik der sanften Störung, ein Schritt zur Seite in einer allzu wohlgeordneten Struktur.
Aus einer breiteren Perspektive betrachtet, hinterfragt diese Technik auch die Grenze zwischen Autor und Vorrichtung. Indem René Mayer eine einfache, aber unbestimmte Maschine in seinen Prozess einführt, verändert er die Position des Künstlers gegenüber dem Werk. Er wird nicht mehr nur zum Ausführenden, sondern zum Initiator eines halboffenen Systems. Er orchestriert die Bedingungen der Möglichkeit, ohne das Ergebnis zu garantieren. Dieser Übergang von einem autoritären zu einem distributiven Modell der Geste deckt sich mit einigen Anliegen des zeitgenössischen kritischen Denkens, etwa bei einem Hans Ulrich Obrist oder Pierre Restany, über die allmähliche Auslöschung der Figur des allmächtigen Künstlers.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Verwendung des Pendels nicht einfach ein plastischer Effekt. Es wird zu einem Werkzeug zur Objektivierung der Geste, zu einem externen Agens, das dazu zwingt, auf die totale Kontrolle zu verzichten. Das schmälert die Verantwortung des Künstlers nicht, ganz im Gegenteil: Es definiert sie neu. René Mayer bleibt Herr des Rahmens, aber er akzeptiert, dass dieser Rahmen erschüttert wird, dass der Sinn im Unvorhersehbaren entsteht. Dieses partielle, tief durchdachte Loslassen verleiht dem Werk eine neue Dichte – eine Art, die Form für das Ereignis zu öffnen, ohne sie in reinen Zufall aufzulösen.
Chips, Gitter und Störungen – eine Ästhetik der Quasi-Ordnung
In den meisten Werken der Serie „Schleichende Veränderung“ ist die allgemeine Struktur vollkommen stabil: Linien, Spalten, Kreise. Alles scheint sich zu wiederholen, fast algorithmisch. Doch bei genauerem Hinsehen lassen sich kleine Anomalien, winzige visuelle Dissonanzen beobachten: eine leichte Neigung, eine Abweichung des Farbtons, eine mikroskopische Verschiebung. Diese Abweichungen sind die eigentliche Materie des Bildes. Sie verkörpern die Idee, dass Unordnung nie von aussen kommt, sondern aus dem Herzen des Systems selbst. Auf dieser Ebene erhält der Zufall in der zeitgenössischen Kunst eine kritische Dimension: Er ist nicht mehr ein spektakulärer Bruch, sondern eine interne, fortschreitende, fast unsichtbare Störung.
Diese Logik der minimalen Abweichung erinnert an bestimmte Forschungen von Gottfried Böhm über die Wahrnehmung von Formen und die Interpretation von Bildern. Nicht das Motiv schafft die Bedeutung, sondern die Abweichung vom Motiv. René Mayer arbeitet in dieser Grauzone zwischen Wiederholung und Variation, zwischen Struktur und Flucht. Er malt nicht den Zufall: Er malt seine Spuren. Dabei formuliert er auf stille, aber beharrliche Weise den Zufall in der zeitgenössischen Kunst als Prozess der inneren Reibung neu, der der Form selbst eingeschrieben ist, anstatt von aussen aus der Serie „Schleichende Veränderung“ projiziert zu werden . Die allgemeine Struktur ist vollkommen stabil: Linien, Säulen, Kreise. Alles scheint sich zu wiederholen, fast algorithmisch. Doch bei genauerem Hinsehen lassen sich kleine Anomalien, winzige visuelle Dissonanzen beobachten: eine leichte Neigung, eine Abweichung des Farbtons, eine mikroskopische Verschiebung. Diese Abweichungen sind die eigentliche Materie des Bildes. Sie verkörpern die Idee, dass Unordnung nie von aussen kommt, sondern aus dem Herzen des Systems selbst.
Diese Logik der minimalen Abweichung erinnert an bestimmte Untersuchungen von Gottfried Böhm über die Wahrnehmung von Formen und die Interpretation von Bildern. Nicht das Motiv schafft die Bedeutung, sondern die Abweichung vom Motiv. René Mayer arbeitet in dieser Grauzone zwischen Wiederholung und Variation, zwischen Struktur und Flucht. Er malt nicht den Zufall: Er malt seine Spuren.
Der Casino-Chip wird in diesem Zusammenhang zu einem spannungsreichen Werkzeug. Er kristallisiert eine Welt willkürlicher Regeln (das Spiel), fiktiver Werte (der Einsatz) und unumkehrbarer Entscheidungen (der Wurf). Indem er sie auf der Leinwand festhält, hält René Mayer sie an, friert sie ein und macht sie sichtbar. Es muss übrigens betont werden: Die Chips bewegen sich nicht. Sie sind sorgfältig auf der Oberfläche festgeklebt und endgültig in die Komposition integriert. Aber indem er sie unterschiedlich färbt, neigt und nach nicht einheitlichen Logiken anordnet, führt er Risse, schwache Signale und Interpretationsbereiche ein. Das Werk zwingt nichts auf. Es suggeriert eine unterschwellige Instabilität, eine Bewegung unter der Form.
In dieser Spannung zwischen Ordnung und Störung zeichnet sich eine echte formale Ethik ab: Kunst als Ort der sanften Warnung, der visuellen Bewusstwerdung. Keine Demonstration, keine Erzählung. Nur eine vibrierende Oberfläche, die sich dem unmittelbaren Lesen widersetzt, die zur Verlangsamung zwingt.
Dieses Spiel mit fast unmerklichen Abweichungen ruft eine aktive Sensibilität des Betrachters hervor. Dieser muss das Bild neu zusammensetzen, nicht indem er einem narrativen Sinn folgt, sondern indem er die Abweichung als Signal interpretiert. Durch diese Mikrodynamik verwandelt René Mayer die Wiederholung in eine Fragestellung, das Raster in ein Beobachtungsfeld. Jedes Token wird zu einer Informationseinheit, einem kritischen Modul. Die Regelmässigkeit ist nicht mehr ein neutraler Hintergrund, sondern eine instabile Leseebene.
In dieser Hinsicht kann man die Gesamtheit der „Schleichende Veränderung“ als formale Allegorie der Kontrollgesellschaft lesen. Wo früher die Brüche sichtbar und abrupt waren, sind die heutigen Verschiebungen allmählich, langsam, fast unauffindbar. René Mayer überträgt dies in die Sprache der Plastik: Er macht wahrnehmbar, was anderswo durch Gewohnheit verwässert wird. Das Auge, das daran gewöhnt ist, in der Ausnahme nach Bedeutung zu suchen, ist hier gezwungen, sie in der verschobenen Wiederholung, in der zarten Abweichung zu suchen. Es ist eine Strategie der langsamen Aufmerksamkeit, die derjenigen ähnelt, die Aby Warburg angesichts der Übersättigung der Zeichen befürwortete Sehen heisst zunächst, unterscheiden zu können, was in der scheinbaren Stabilität zu schwanken beginnt.
Vergleiche – Duchamp, Cage, Pollock … und Mayer
Es ist verlockend, René Mayers Vorgehen mit dem anderer Künstler zu vergleichen, die in der zeitgenössischen Kunst mit oder über den Zufall gearbeitet haben. Marcel Duchamp natürlich mit seinen ‚Three Standard Stoppages‘ (bei denen auf den Boden gefallene Drähte zum Massstab eines neuen Lineals werden) oder seinen ‚aus Trotz‘ gewählten ‚Ready-mades‘. John Cage, der das ‚I Ching‘ in die Musikkomposition einführt. Jackson Pollock, der die Farbe gemäss der Gestik des Körpers fliessen lässt. Oder Jean Arp, der Papierstücke auf die Leinwand fallen liess und sie dort fixierte, wo sie heruntergefallen waren.
René Mayer ist jedoch nicht Teil dieser Radikalität. Er gibt nie die Kontrolle auf, weder bei der Auswahl der Elemente noch bei deren Anordnung. Er schafft Systeme, in denen der Zufall in der zeitgenössischen Kunst als interner Störfaktor wirkt, nicht als absolutes Prinzip. In dieser Hinsicht ähnelt sein Ansatz eher einem Sol LeWitt oder einem François Morellet, die strenge Regeln aufstellten, aber bei der Ausführung einen Teil des Zufalls mit einfliessen liessen.
Was René Mayer jedoch auszeichnet, ist die Verbindung des Motivs (des Chips) mit einer starken symbolischen Ladung. Es handelt sich nicht um ein einfaches Spiel mit Formen. Es liegt eine Idee zugrunde: die einer Welt, die blind getroffenen Entscheidungen ausgeliefert ist, einer Gesellschaft, die mit Parametern spielt, die sie nicht mehr beherrscht. Das Bild wird so zu einem kritischen Dispositiv – nicht spektakulär, sondern heimtückisch. Es infiltriert den Blick auf sanfte Weise, verändert ihn aber nachhaltig.
Dieser Ansatz zeichnet sich auch durch seine Effektlosigkeit aus. Wo Cage oder Arp die Zufallsgeste zum Kern des Prozesses machten, bleibt René Mayer in einer Ökonomie des Zeichens und des Details. Was ihn interessiert, ist nicht der Schock einer unvorhersehbaren Form, sondern das langsame Auseinanderdriften einer scheinbar stabilen Struktur. Man könnte sogar sagen, dass René Mayer eine stille Übersetzung der Sprache des Zufalls vornimmt und sie in eine stärker verinnerlichte, fast introspektive Grammatik zurückführt.
Damit schliesst er sich einer eher unterirdischen kritischen Tradition an, in der der Zufall eher eine Lesehypothese als ein Manifest ist. Dies rückt seine Arbeit in die Nähe eines gewissen europäischen Minimalismus, bei dem die kleinste Verschiebung Bedeutungsträger ist. Im Gegensatz zu diesen oft formalen Strömungen führt René Mayer jedoch eine diskrete politische Dimension ein. Er denunziert nicht, sondern macht sichtbar, was unsere kollektiven Entscheidungen bestimmt. Das verleiht seinen Werken eine dumpfe Kraft Sie artikulieren auf kleinem Raum weit reichende Fragen.
In der zeitgenössischen Kunst gibt es nur wenige Künstler, die auf so subtile Weise gesellschaftliche Inhalte mit abstrakten formalen Entscheidungen verknüpfen. René Mayer beansprucht keine Botschaft. Er kommentiert nicht. Aber er lässt sehen. Und was er zu sehen gibt, ist eine instabile Welt, die schön ist, aber auf einem nicht angenommenen Teil des Zufalls beruht.
Zufall und Verantwortung – eine ethische Spannung
Das Eindringen des Zufalls, in der Kunst wie im Leben, wirft eine Frage der Verantwortung auf. Wenn alles zufällig ist, wer trägt dann die Verantwortung? Der Künstler? Das System? Der Betrachter? René Mayer arbeitet mit dieser Spannung. Er verschanzt sich nicht hinter dem Zufall, um sich seinen Entscheidungen zu entziehen. Im Gegenteil, er nutzt den Zufall, um die Frage nach unseren kollektiven Entscheidungen zu stellen.
Seine Werke konfrontieren uns durch ihre präzise Komposition und den diskreten Einsatz der Störung mit unserer eigenen Beziehung zum Risiko, zur Wahrscheinlichkeit und zum Umgang mit dem Unvorhersehbaren. Das Bild wird zu einer Art Allegorie: Was passiert, wenn ein strukturiertes System aus dem Gleichgewicht zu geraten beginnt? Was sehen wir zuerst: die Struktur oder den Riss? Was ist uns wichtiger: die Schönheit des Ganzen oder die durch das Detail angedeutete Unruhe?
René Mayer besitzt eine Form von Klarsicht, die sich mit einigen Analysen von Jean Baudrillard deckt: Wir sind in selbstreferentiellen Systemen gefangen, in denen der Zufall gleichzeitig gefürchtet und als Spektakel inszeniert wird. René Mayer spielt diese Karte nicht. Er dramatisiert nichts. Er legt eine Mechanik des Abdriftens offen. Er konfrontiert uns mit der langsamen Veränderung von Bezugspunkten, mit der Art und Weise, wie eine visuelle Ordnung instabil werden kann, ohne dass es jemand merkt.
Diese Ablehnung der Theatralisierung macht die Einzigartigkeit seines Ansatzes aus. Wo der Zufall in der zeitgenössischen Kunst oft dazu benutzt wird, den Rahmen zu dekonstruieren oder einen sichtbaren Bruch zu schaffen, macht René Mayer ihn unsichtbar, fliessend, organisch. Die Störung wird nicht angezeigt: Sie schleicht sich ein. Sie zwingt den Blick, seine Komfortzone zu verlassen, ohne Ablehnung oder Faszination hervorzurufen. Es ist eine Strategie der Dezentrierung, nicht der Subversion.
Dieser Ansatz verleiht seinem Werk eine diskrete ethische Dimension. Keine Slogans. Keine Erzählung. Nur eine stille Oberfläche, die sagt: Schau genauer hin. Nichts ist stabil. Nichts ist sicher. Alles kann kippen. Und wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, liegt es nicht an fehlenden Zeichen.
Aus dieser Perspektive ist der Zufall in der zeitgenössischen Kunst nicht länger ein einfaches Verfahren: Er wird zu einem Indikator für unsere gemeinsame Verantwortung. René Mayer hebt die Bedeutung nicht auf, sondern gestaltet sie neu. Er zeigt, wie ein Werk das Feld der Entscheidung neu verteilen kann – nicht mehr nur zwischen Künstler und Material, sondern zwischen Bild und Blick, zwischen formaler Stabilität und Wahrnehmungsstörung.
Ein Werk in Spannung – zwischen Beherrschung und Offenheit
Was an der jüngsten Entwicklung von René Mayers Arbeit auffällt, ist die Art und Weise, wie es ihm gelingt, eine konstante Spannung zwischen zwei Polaritäten aufrechtzuerhalten: auf der einen Seite eine extreme, fast mathematische formale Strenge; auf der anderen Seite eine angenommene Offenheit für den Zufall, das Unvorhergesehene, das Unkontrollierbare. Er versucht nicht, sie miteinander zu versöhnen oder in eine Rangordnung zu bringen. Er bringt sie bewusst in Reibung, wie zwei gegensätzliche Kräfte, die in demselben Bildraum zusammenleben. Diese Opposition wird zum Motor des Werks, seiner inneren Dynamik, seiner Atmung.
Die Pendelmalerei ist kein Zufall im Werk von René Mayer. Sie stellt im Gegenteil einen Ausgangspunkt dar, eine Basis, auf der sich alles aufbaut. Die Bewegung des Pendels, das der Schwerkraft unterliegt, erzeugt flüssige und unvorhersehbare Linien, die von Anfang an eine Vibration, einen unterirdischen Rhythmus festhalten. Dieser mit fast choreografischer Präzision ausgeführte Hintergrund wird dann von den Jetons bedeckt, die das Kompositionsraster streng domestiziert. So treten die Schwankungen der Chips in Spannung zu den Bewegungen des Pendels, ohne sie jemals zu neutralisieren.
Alles ist also geplant, durchdacht und geordnet. Und doch bleibt innerhalb dieses Plans ein Teil der Offenheit, ein Raum zum Atmen. Es ist nie Chaos, aber auch nicht mehr Ordnung. Es ist eine Zone der Unruhe, ein bewegliches Dazwischen, eine Wahrnehmungsschwelle, wo das Auge zögert, schwankt und einen Halt sucht, ohne ihn jemals ganz zu finden. Dieser Dialog zwischen Struktur und Vibration ist das Herzstück der erzeugten Wirkung.
Diese Spannung verleiht seinen Werken ihre Kraft und ihre Einzigartigkeit. Sie bieten sich nicht auf einen Blick an. Sie erfordern eine längere Aufmerksamkeit, ein aktives Lesen, ein Engagement des Blicks und des Denkens. Der Betrachter ist nicht mit einem Bild konfrontiert, das er entschlüsseln muss, sondern mit einem Feld möglicher Interpretationen. Er wird selbst zum Akteur der Bedeutung, gefangen in einem Spiel der instabilen Gleichgewichte. Nichts ist demonstrativ, alles muss gefühlt werden. Diese Instabilität ist kein Oberflächeneffekt, sondern ein Konstruktionsprinzip. Sie ist das, was die Werke lebendig und zeitgenössisch macht, im Einklang mit unserer Zeit, die von Ungewissheit, ständigem Wandel und dem Verlust fester Bezugspunkte geprägt ist.
René Mayer betreibt keine Zufallskunst. Er begnügt sich nicht damit, die Form dem Zufall anzuvertrauen. Er macht Kunst, die den Zufall denkt, die seine ästhetischen, aber auch ethischen Implikationen erforscht. Das ist eine entscheidende Nuance. Der Zufall wird zu einem kritischen Werkzeug, einer Möglichkeit, visuelle Automatismen, Wahrnehmungsgewissheiten und Repräsentationssysteme zu hinterfragen. Und das ist es, was es seiner Arbeit ermöglicht, dem Anekdotischen, dem Dekorativen oder dem Effekt zu entkommen, um sich einer umfassenderen Reflexion anzuschliessen: über die Wahrnehmung, über die Verantwortung des Blicks, über die Bedingungen, unter denen wir die Welt bewohnen. In diesem Ansatz wird jedes Bild zu einer Wahrnehmungserfahrung, aber auch zu einer stillen Befragung: Was sehe ich? Und was will ich nicht sehen?
Fazit – eine Ästhetik des Hinterfragens
Der Zufall wird in der zeitgenössischen Kunst oft als Provokation, als Bruch oder sogar als Haltung eingesetzt. Er wird zu einer spektakulären Geste, einer Art, eine radikale Freiheit oder ein Misstrauen gegenüber den etablierten Regeln zur Schau zu stellen. Bei René Mayer nimmt er eine ganz andere Dimension an: Er wird zu einem Werkzeug der Aufklärung. Ein diskretes, aber wirkungsvolles Mittel, um unsere Gewissheiten zu hinterfragen. Er zielt nicht darauf ab, zu überraschen, sondern sanft zu alarmieren. Er sucht nicht nach dem Effekt, sondern nach der Bewusstwerdung. Sein Einsatz des Zufalls ist eine Möglichkeit, uns auf das aufmerksam zu machen, was uns normalerweise entgeht.
Indem er Zufallselemente in strenge Strukturen einbaut, eher mit winzigen Abweichungen als mit sichtbaren Brüchen spielt, symbolische Motive mit unvorhersehbaren Gesten kombiniert, baut René Mayer ein anspruchsvolles und luzides Werk auf. Ein Werk, das nicht über sich selbst, sondern über die Welt spricht. Ein Werk, das uns zwingt, langsamer zu werden, anders auf das zu blicken, was wir für stabil halten. Es ist nicht die Ordnung, die er dekonstruiert, sondern unsere Abhängigkeit von der Ordnung. Es ist nicht die Zufälligkeit, die er feiert, sondern unsere Fähigkeit, mit ihr umzugehen.
In diesem Sinne steht René Mayer in einer kritischen Tradition – aber ohne Dogma, ohne Demonstration, ohne Pathos. Er prangert nicht an. Er macht Vorschläge. Er moralisiert nicht. Er stellt Fragen. Er schafft Räume, in denen sich der Blick für das öffnen kann, was zittert, was sich bewegt, was sich jeglicher Fixierung entzieht. Er etabliert einen methodischen Zweifel, aber ohne Verzweiflung. Er erinnert uns daran, dass der Zufall keine Auslöschung des Sinns ist, sondern eine ernst zu nehmende Modalität des Realen. Die wahre Herausforderung des Zufalls besteht bei ihm nicht darin, alles dem Schicksal zu überlassen – sondern zu lernen, zu sehen, wann, wie und warum er eingreift. Und zu verstehen, was das über uns, unsere Entscheidungen und unsere Beziehung zur Welt aussagt.
So entsteht eine Ästhetik des Hinterfragens: eine Kunstform, die nicht versucht, zu gefallen oder zu schockieren, sondern die Aufmerksamkeit zu wecken. Eine Kunstform, die den einfachen Weg ablehnt, die auf Subtilität setzt, auf verhaltene Spannung, auf fruchtbare Zweideutigkeit. Eine Kunstform, die nichts verschliesst, sondern öffnet – und zum Denken einlädt.