RENÉ MAYER, DIE MODERNE SKULPTUR UND DIE MATERIE

Die Kluft zwischen den Materialien

Was ist zeitgenössische Skulptur? Diese scheinbar einfache Frage erfordert weniger eine Definition als vielmehr eine sich ständig verändernde Kartografie. Denn Skulptur ist heute keine Disziplin mehr, die durch edle Materialien oder erkennbare Werkzeuge begrenzt ist. Sie wird von einer Vielzahl von Praktiken, Ansätzen und Gesten durchzogen, die ihre traditionellen Grundlagen ins Wanken bringen. Künstler arbeiten mit Bronze oder Kaugummi, Marmor oder rostigem Metall, Ton, Harz, Asche, Textilien, Zucker oder sogar Luft. Nicht mehr die Stabilität des Materials bildet die Grundlage des Werks, sondern das, was der Künstler daraus macht: die Art und Weise, wie er es in einem Raum der Erwartung, der Unterbrechung, der Berührung oder der Instabilität ins Spiel bringt.

Bei Rachel Whiteread steht die Erfahrung der Leere im Mittelpunkt. Indem sie das Innere vertrauter Gegenstände – Badewannen, Matratzen, Bücherregale oder ganze Gebäude – abformt, verwandelt sie Abwesenheit in Präsenz. ‚House‘ (1993), eine identische Nachbildung des leeren Raums eines Arbeiterhauses im Osten Londons, ist ebenso eine Geste der Erinnerung wie eine skulpturale Handlung. Wo die klassische Skulptur akkumuliert, kehrt Whiteread um und subtrahiert.

Tony Cragg hingegen erforscht den ständigen Wandel von Formen. Seine Arbeit, die in den 1980er Jahren aus dem Recycling hervorgegangen ist, hat sich zu gewundenen Strukturen entwickelt, die gleichzeitig natürlich und künstlich wirken. In ‚Forminifera‘ (1993) fügt er industriell gefertigte Objekte zu einem organischen, hybriden Ganzen zusammen, das sich jeder Klassifizierung entzieht. Cragg spricht übrigens von ‚Skulpturen des Denkens‘ und betont ihre Fähigkeit, sowohl die Vorstellungskraft als auch die Wahrnehmung anzuregen.

Berlinde De Bruyckere entwickelt Skulpturen, die verstören, erschüttern und die Blickordnung neu definieren. Aus Wachs, Holz, Leder und Stofffragmenten schafft sie deformierte, anonyme, verstümmelte menschliche Formen. ‚Kreupelhout – Cripplewood‘ (2012-13), ausgestellt auf der Biennale in Venedig, zeigt einen bandagierten, mit Narben übersäten Baumstamm, der wie ein genesender Körper daliegt. Das Material ist hier Wunde, Erfahrung, fleischliche Erinnerung. Das Pathos kommt nicht aus einem Bild, sondern aus dem Material selbst.

Bei Ernesto Neto wird die Skulptur zu einer sinnlichen Immersion. Seine weichen Installationen aus elastischem Lycra, gefüllt mit Gewürzen oder Sand, hängen von der Decke, werden von Körpern gestreift und durch Schritte aktiviert. In ‚Leviathan Thot‘ (2006), installiert im Panthéon in Paris, betritt der Besucher einen schleimigen, duftenden, taktilen Organismus. Hier ist die Skulptur kein Objekt mehr, das man betrachtet, sondern eine Atmosphäre, die man durchquert. Das Material ist dazu da, das Verhalten des Betrachters zu verändern, seinen Schwerpunkt zu verlagern.

Diese Entwicklung führt zu einer tiefgreifenden Neudefinition der zeitgenössischen Skulptur und der Materie. Was gestern noch wichtig war – Haltbarkeit, Masse, Vertikalität, die Noblesse des Materials – reicht heute nicht mehr aus. Heute ist die Materie aktiv, widerstandsfähig, symbolisch, manchmal vergänglich. Sie wird zum Träger einer Auseinandersetzung mit dem Körper, der Zeit, der Erinnerung und dem sozialen Raum. Sie ist nicht mehr Mittel zum Zweck einer Form, sondern eine Hypothese, die es zu überprüfen gilt. So verflechten sich zeitgenössische Skulptur und Material in einem Experimentierfeld, in dem das Sichtbare niemals vom Tastbaren, vom Politischen, vom Lebendigen getrennt ist.

Aktive Materie – widerstandsfähige Materie

Seit Richard Serra wissen wir, dass eine Skulptur nicht betrachtet wird: Sie verschiebt, sie kontrastiert, sie zwingt. In ‚Tilted Arc‘ (1981), einer riesigen Stahlkurve, die in den öffentlichen Raum gestellt wurde, konnte das Werk weder bewundert noch mühelos umgangen werden. Es erforderte eine physische Entscheidung. Diese Art, den ’sozialen Raum zu formen‘ indem man den Körper zum Handeln zwingt, anstatt nur zu sehen, definiert neu, was Materie leisten kann. Eine Skulptur bedeutet nicht mehr nur das, was sie zeigt, sondern auch das, was sie hervorruft.

Diese Logik schliesst das Verschwinden nicht aus. Gianni Motti treibt diese Idee auf die Spitze: In seinen ‚unsichtbaren Skulpturen‘ wird das Material abgeschafft und durch eine Handlung oder eine Situation ersetzt. Wenn er sich für Medienereignisse verantwortlich macht oder einen Ort durchquert, ohne greifbare Spuren zu hinterlassen, ist es die Leere, die wirkt. Das Werk ist das Gerücht seines eigenen Geschehens.

Susana Solano hingegen schafft gefaltete Räume, oft aus oxidiertem Stahlblech. Das Innere ist unzugänglich. Ihre Skulpturen wie ‚Interior‘ (1990) scheinen einen Unterschlupf zu bieten, verbieten jedoch jegliche Nutzung. Sie frustrieren den Gebrauch, widerstehen jeder Annäherung. Es ist ein Material, das ausschliesst, aber gerade dadurch anspricht.

Erwin Wurm geht den umgekehrten Weg. Er verleiht der Skulptur ein momentanes Tempo. In seinen ‚One Minute Sculptures‘ wird der Betrachter zum provisorischen Material einer absurden Haltung: auf einem Stuhl liegend mit einem Zucchino auf dem Kopf oder unter einem Tisch liegend, balancierend auf einer Flasche. Das Material ist hier verhaltensorientiert. Die Form ist vergänglich, aber ihre Absurdität beeindruckt wie ein flüchtiger Glanz im skulpturalen Feld.

Am anderen Ende des Spektrums erforscht Giuseppe Penone die Langsamkeit. Er entfernt die Rinde eines Baumes, um den ursprünglichen Stamm freizulegen, oder prägt menschliche Abdrücke in Äste, Steine oder Bronze. Das Material wird nicht modelliert, sondern offenbart, als trage es die Idee seiner Form in sich. Er komponiert nicht, sondern legt offen, was bereits vorhanden war, in seiner Potenz.

Anish Kapoor hingegen arbeitet mit dem Unerkennbaren. In ‚Descent into Limbo‘ (1992) öffnet ein schwarzes Loch von unbestimmbarer Tiefe buchstäblich den Boden. Nichts zum Anfassen, nichts zu verstehen. Nur Schwindel. Die Materie verschwindet und macht Platz für eine optische Dichte, eine geometrische Ungewissheit.

Cornelia Parker hingegen fragmentiert. Ihr berühmtes Werk ‚Cold Dark Matter: An Exploded View‘ (1991) ist die sorgfältige Aufhängung der Überreste eines explodierten Gartenhauses, das im Raum nachgebildet wurde. Jedes Fragment schwebt. Das Werk ist gleichzeitig Explosion, Stillstand und Neuzusammensetzung. Die Materie ist zerstreut, aber sie hält zusammen – durch die Erinnerung an den Aufprall.

In der zeitgenössischen Skulptur ist Materie also weder stabil, noch edel, noch hierarchisch. Sie kann fehlen, weich, explosiv, unberechenbar sein. Aber sie ist immer adressiert. Sie wirkt, widersteht, verletzt oder absorbiert. Sie hat nicht mehr nur eine Form: Sie ist in sich selbst das Rätsel. Und in dieser instabilen Verwendung der Materie hört die Skulptur auf, ein Objekt zu bezeichnen. Sie wird zu einer Operation, einer Handlung, einer Schwelle, die es zu überschreiten gilt. Das ist das sich wandelnde Terrain, das die zeitgenössische Skulptur und die Materie heute zeichnen.

Eintritt einer Figur

In einer fragmentierten skulpturalen Landschaft, in der die Materie zu verschwinden, sich zu zersplittern, zu verflüssigen oder zu konzeptualisieren scheint, tritt René Mayer einen Schritt zur Seite. Er stellt die Entwicklungen nicht in Frage, sondern beobachtet sie. Und aus dieser Distanz wählt er einen anderen Weg: die Rückkehr zur Geste, zur Hand, zum greifbaren Volumen. Sein Ausgangspunkt ist weder eine Theorie noch ein kritisches Protokoll, sondern eine sinnliche Beziehung zur Materie. Ton zu formen, eine kompakte, stille Form zu schaffen, ihr eine Präsenz zu verleihen, das ist sein erster Schritt – ein einsamer, taktiler, unspektakulärer.

Aber dieser erste, persönliche Akt geht weiter. René Mayer bleibt nicht beim modellierten Objekt stehen. Er gibt seine Modelle an spezialisierte Werkstätten weiter, die diese aus der Intuition entstandenen Volumen in Marmor oder Granit umsetzen können. Er bearbeitet den Stein nicht selbst, sondern leitet die Steinmetze. Das Werk verändert sich in seiner Grösse, wechselt die Hände, verändert seine Widerstandsfähigkeit. Es ist nicht mehr das Werk eines Einzelnen, sondern eines kollektiven Prozesses. Am Anfang steht eine fragile Intuition. Am Ende steht eine stabile, dauerhafte, souveräne Form. Dieser Übergang vom Ateliermodell zu einer monumentalen Form, die aus edlem Material geschnitten ist, stellt den Begriff des Autors selbst in Frage.

Was ist nun von diesem so entfalteten Werk zu halten? Ist die Statuette bereits ein Kunstwerk an sich oder ein Arbeitsinstrument? Ist das Endprodukt, das von anderen unter seiner Leitung hergestellt wurde, noch eine Skulptur oder bereits Design? René Mayer entscheidet sich nicht. Er beansprucht beide Bereiche für sich. Er will ohne Zwänge schaffen, in der Freiheit des Augenblicks, aber auch seine Formen in eine Kontinuität von Material, Dauer und Lesbarkeit einbetten. Was er allein erfindet, lässt er von anderen vollenden. Was er aus dem Instinkt heraus modelliert, lässt er nach handwerklicher Logik weiterbestehen.

In der Serie „Marmor & Granit“ erreicht diese Logik einen Wendepunkt. Die mit einer Präzision geschnittenen Stücke, die an monumentale Goldschmiedekunst erinnern, könnten perfekt in einen Serienproduktionsprozess passen. Die Idee der Reproduzierbarkeit ist hier potenziell vorhanden. Und doch behält jede Skulptur die Einzigartigkeit ihres Ursprungs: eine gefundene, nicht programmierte Form. Es ist diese Ambivalenz, die René Mayers Werk so schwer einzuordnen macht: Es entspringt ebenso sehr einer handwerklichen Ökonomie wie einer Designlogik, ebenso sehr einer Vorstellung vom Einzigartigen wie einem Denken in Serien.

Im Gegensatz dazu verfolgt die Serie „Viva Viva“ einen umgekehrten Ansatz. Hier durchläuft nichts die Werkstatt oder die Reproduktion. Jede Skulptur wird von René Mayer selbst geformt, bemalt und fertiggestellt. Terrakotta, leuchtende Farben, verspielte und instinktive Formen. Es sind unmittelbare, vollständige, in sich geschlossene Werke. Sie machen keine Kompromisse. Während „Marmor & Granit“ auf kontrollierter Delegation basiert, gibt „Viva Viva“ nichts ab. Die Hand des Künstlers ist überall, in jeder Kurve, jedem Zufall, jedem Farbtupfer.

Diese Spannung zwischen zwei Arbeitsweisen – kollektiv und individuell, akkretiv und unmittelbar, handwerklich und künstlerisch – sucht keine Auflösung. Sie strukturiert das gesamte bildhauerische Werk von René Mayer. Und vielleicht liegt darin seine Einzigartigkeit: eine ambivalente Position zwischen Kunst und Design einzunehmen, ohne jemals das eine auf das andere zu reduzieren. Hier gibt es keine Reinheit. Es gibt einen fliessenden plastischen Gedanken, der bereit ist, sich zu verwandeln, ohne sich zu verlieren, zu verhandeln, ohne sich aufzulösen.

Zwei Familien – ein gemeinsamer Atem

Die beiden grossen Skulpturenserien von René Mayer, „Viva Viva“ und „Marmor & Granit“, verkörpern eine offensichtliche Polarität – und eine tiefere Einheit. Die eine entsteht in einem Regime der Unmittelbarkeit, des Spiels, der chromatischen Vitalität; die andere in einer kontrollierten Langsamkeit, einer frontalen Beziehung zur Masse, zum Gleichgewicht, zum Schnitt. Der Kontrast springt ins Auge: Auf der einen Seite farbenfrohe, handgeformte Skulpturen aus Terrakotta, bemalt mit Acrylfarben, mit dynamischen und ausdrucksstarken Formen. Auf der anderen Seite dunkle oder helle, polierte Volumen, die in schwarzem Marmor oder grünem Granit nach einer stillen und stabilen Geometrie geschnitten sind.

Und doch sind „Viva Viva“ und „Marmor & Granit“ nicht zwei Werke, sondern zwei Ausdrucksformen desselben plastischen Schaffens. Was sie verbindet, ist weder der Stil, noch das Format, noch die Methode, sondern eine Haltung. René Mayer sucht niemals nach Effekten, sondern nach Präsenz. In beiden Fällen geht es darum, eine Form entstehen zu lassen, die sich sowohl durch ihre Bedeutung als auch durch ihre Machart durchsetzt – und zwar nicht als Botschaft, sondern als Körper im Raum.

Paolo Bonfiglio spricht treffend von ‚Kopffüsserskulpturen, ohne Mund, aber mit einem immensen Blick‘. Das ist ein glücklicher Ausdruck, der das Paradoxon gut zum Ausdruck bringt: Diese Werke sprechen nicht zu uns, aber sie schauen uns an. Sie haben weder Gesicht noch Absicht, aber sie wenden sich an uns. Dieser Blick – oder vielmehr diese stumme Ausstellung – verweist auf das, was Georges Didi-Huberman als ‚reines Visuelle‘ bezeichnet, diesen Moment, in dem das Bild (oder hier die Form) nicht mehr dazu dient, etwas anderes zu sehen, sondern uns zwingt, zu sehen, was es ist, dort, vor uns.

In ‚Viva Viva‘ ist jede Skulptur einzigartig, nicht reproduzierbar, nicht retuschiert. René Mayer bearbeitet den Ton wie ein Maler seine Skizze: schnell, direkt, konzentriert. Einige Stücke erinnern an archaisches Spielzeug, Totemtiere, spielerische Figuren. Andere, wie „The transparent eye“, „Meeting Point of Two“ oder „Piercing Glaze“, sind abstrakter, behalten aber eine innere Dynamik, eine Bewegung, die mitten im Flug eingefroren ist. Es handelt sich nicht um Symbole, sondern um Organismen. Ihre Farbe ist nicht dekorativ, sondern betont die Wahrnehmung des Volumens, die Spannung zwischen Innen und Aussen, Oberfläche und Dichte.

Die Serie ‚Marmor & Granit‘ entsteht durch Kristallisation. René Mayer modelliert eine kleine Skulptur aus Ton und überträgt dann die monumentale Umsetzung an spezialisierte Werkstätten in Indien. Der Prozess ist langsam, technisch und rigoros. Die entstandenen Werke – „The Egoist“, „Holy Moly“, „The Physicist“ – wollen nicht durch Grösse oder Material beeindrucken, sondern eine gedachte Form stabilisieren. Sie stellen sich dem Licht, dem Regen, der Zeit. Ihre Stille ist kein Rückzug, sondern Beharrlichkeit. Wie Jean-Luc Nancy schreibt: ‚Was ein Werk ausmacht, ist das, was Bestand hat, was sich dem Verschwinden im Fluss widersetzt.‘

Dieser Dialog zwischen unmittelbarer Schöpfung und verzögerter Umsetzung, zwischen intimem Akt und kollektivem Objekt steht im Mittelpunkt der zeitgenössischen Bildhauerei und der Materialität, wie sie René Mayer erforscht. Er versucht nicht, beide Systeme zu verschmelzen, sondern lässt sie nebeneinander bestehen, wie zwei parallele Stimmen. Die eine spricht vom Augenblick, die andere von der Beständigkeit. Die eine setzt die Geste in Gang, die andere das Material. Aber beide suchen dasselbe: eine richtige Form, die Bestand hat, die standhält, ohne sich zu rechtfertigen.

Mit diesem doppelten Ansatz schliesst sich René Mayer auf seine Weise den Überlegungen von Henri Focillon in ‚Vie des formes‘ an: ‚Die Materie ist eine Kraft. Sie ist nicht dazu da, um gezähmt zu werden, sondern um verstanden zu werden.‘ In diesem Sinne arbeitet er. Nicht um etwas aufzuzwingen, sondern um zuzuhören, wie die Form entsteht. Eine Form an der Grenze zwischen Kunst und Design, weder klassische Skulptur noch funktionales Objekt – sondern etwas, das diesen Moment des fliessenden Gleichgewichts materialisiert, in dem etwas plötzlich Gestalt annimmt.

Archetypen und Fragmente

Die von René Mayer geschaffenen Formen imitieren nichts, aber sie evozieren vieles. Sie sind nicht figurativ, aber auch nicht abstrakt im modernistischen Sinne. Sie gehören zu einem Zwischenbereich, der aus Reminiszenzen, Assoziationen und Anspielungen besteht. Sie zeigen nicht den Körper, sondern bewahren seine Erinnerung. Ein gesichtsloser Kopf, eine geschlechtslose Silhouette, eine gespaltene Büste, ein Auge ohne Augenhöhle: Diese Fragmente erzählen nicht von einem Fall, sondern von einer Beständigkeit. Sie drücken weder Schmerz noch Begeisterung aus, sondern eine Art stille Ausdauer. Sie sind da, wie Präsenzen, die aus dem Vorbild auftauchen, als ob die zeitgenössische Skulptur und die Materie hier die Kraft wiederfänden, etwas erscheinen zu lassen, ohne es zu zeigen.

Diese Spannung ist nicht neu. Man findet sie bei Germaine Richier in ihren vergänglichen Körpern zwischen Pflanze, Tier und Mensch. Bei Jean Fautrier in seinen ‚Otages ravinés‘ (Zerfurchte Geiseln). Bei Magdalena Abakanowicz in ihren Menschenmengen aus gesichtslosen, stehenden, anonymen Individuen. Bei René Mayer jedoch wird die symbolische Ladung auf Distanz gehalten. Es gibt weder Pathos noch Diskurs. Die Verformung ist kein Leiden, sie ist Evidenz. Die Unvollendung ist keine Schwäche, sie ist eine Form.

In „The Egoist“, einem kompakten Block mit einem kugelförmigen Kopf, ist der Blick eine ausgehöhlte Abwesenheit. In „Holy Moly“, einer strengen Vertikalität, die von Nischen durchzogen ist, scheint die Form auf eine Stimme zu warten, die nicht kommen wird. In „The Other Side“ scheinen sich zwei Hälften von Figuren gegenüberzustehen, ohne sich jemals zu treffen. Diese Skulpturen verweisen nicht auf einen Mythos, sondern auf einen Zustand: da zu sein, zu stehen, ohne Rechtfertigung.

Henri Focillon schrieb, dass ‚jede Form ihr eigenes Leben lebt, unabhängig davon, was sie darstellen kann‘. René Mayer scheint diese These wörtlich genommen zu haben. Jede Form, die er schafft, ist eine Einheit, eine in sich geschlossene, aber durchlässige Einheit. Sie erzählt nichts, lässt aber eine Beziehung erkennen. Die Form ist kein Behälter, sondern ein Kontakt.

Die Haltung, die Frontalität, das innere Gleichgewicht seiner Skulpturen erinnern an Archetypen: nicht an universelle Symbole, sondern an archaische, vorverbale Konfigurationen. Es sind keine Statuen, sondern Figuren. Aufrechtstehende Formen, die sehen, ohne zu sehen, benennbar, ohne Namen. Ihr Schweigen ist aktiv. Sie zwingen uns, vor ihnen zu bleiben, in dieser Zone der Ungewissheit, die Didi-Huberman als ‚reine Präsenz‘ bezeichnet.

In diesem Sinne geht es René Mayer nicht in erster Linie darum, lesbare Werke zu schaffen. Er sucht nach Formen, die Bestand haben. Nicht nur in der Materie, sondern auch im Blick. Als ob jede Skulptur, anstatt angeboten zu werden, wartete: auf einen Boden, der sie fixiert, auf einen Himmel, der sie beleuchtet, auf einen Körper, der ihr antwortet. Sie fallen nicht vom Himmel, sie steigen aus der Dunkelheit empor. Es sind Fragmente der Menschheit – nicht in ihrer Niederlage, sondern in ihrer Hartnäckigkeit.

Der Ort als Erweiterung der Form

In den Hügeln des Piemont, direkt auf dem Gras, zwischen Bäumen oder Steinen aufgestellt, wirken die Skulpturen von René Mayer nicht ‚ausgestellt‘, sondern einfach nur präsent. Sie sind nicht da, um gesehen zu werden, sondern um zu existieren, um mit dem Licht, den Jahreszeiten, dem Moos, den Insekten – und den Menschen – zu koexistieren. Die Zeit beschädigt sie nicht: sie poliert sie. Sie löscht sie nicht aus, sondern prägt sie. Wie Henry Moores ‚Königin und König‘, die in Dumfries in einer natürlichen Umgebung stehen, finden die Formen von René Mayer ihren Boden, ihre Schwelle, ihren Platz. Sie suchen keinen Sockel, sondern eine Verankerung.

Diese Beziehung zum Ort ist umso stärker, als seine Skulpturen nichts aufzwingen. Sie fügen sich in die Umgebung ein, sie lauschen ihr. Der dunkelgrüne Marmor wird zu Moos. Der Granit nimmt das Licht auf wie stehendes Wasser. Das Material wird bescheiden, undurchsichtig, und es ist diese Zurückhaltung, die wirkt. Im Gegensatz zu so vielen zeitgenössischen Werken, die den Raum kolonisieren, lässt René Mayer seine Skulpturen sich ohne Plan und ohne System einfügen. Sie lassen sich nieder. Sie nehmen ihren Platz ein, indem sie sich zurückziehen.

Diese Haltung des Respekts – oder der Demut – steht in Zusammenhang mit der Entstehungsweise einiger seiner Formen. In der Serie „Viva Viva“, inspiriert von mexikanischen polychromen Statuetten, erinnern die bemalten Terrakotta-Skulpturen an die Masken des Basler Karnevals, ohne sie jemals zu kopieren. René Mayer kennt diese Figuren seit seiner Kindheit. Er hat sie beobachtet, getragen, ihnen in den Strassen und im Konfetti begegnet. Ihre Disproportionen, ihre aufgerissenen Münder, ihre leuchtenden Farben, ihre groteske, aber stets beherrschte Kraft haben Spuren hinterlassen. Bei ihm jedoch gibt es keine direkten Zitate: Es sind Reminiszenzen. Nicht die Maske wird aufgegriffen, sondern die Haltung, das Auftauchen, die Energie, die sich in einem kopflosen Körper oder einem verschobenen Auge verdichtet.

Was sie verbindet – diese Karnevalsmasken und die Skulpturen von René Mayer – ist das, was Bakhtine als ‚festliche Körperlichkeit‘ bezeichnet hat: die Art und Weise, wie der groteske Körper sich verwandelt, überfliesst und in ständigem Kontakt mit seiner Welt steht. Bei René Mayer schliesst die Skulptur nichts ab. Sie bleibt offen, porös, in der Schwebe. Sie errichtet kein Denkmal, sie erfindet einen Ort.

In diesem Sinne gehören die Skulpturen von René Mayer ebenso zur Landschaft wie zur Geschichte des Volumens. Sie zeichnen keine Linie, sie graben eine Nische. Eine Art, durch die Form in der Welt zu sein, eine Form, die nicht glänzen will, sondern bleiben. Und in dieser Art, sich niederzulassen – ohne Diskurs, ohne Emphase –, finden die zeitgenössische Skulptur und die Materie eine Möglichkeit der Dauer, die sich dem Lebendigen nicht entgegenstellt, sondern mit ihm im Einklang steht.

Fazit – Eine Form der Beharrlichkeit

In einer Zeit, die von der Verpflichtung zur Schnelligkeit, der Zirkulation von Zeichen und der Flüchtigkeit von Bildern geprägt ist, bietet das skulpturale Werk von René Mayer eine Form des stillen Widerstands. Keine theoretische oder kritische Opposition, sondern eine ruhige Weigerung, dem Rhythmus zu folgen. Es gibt nichts zu beweisen, nichts zu illustrieren, nichts zu kommentieren. Nur eine Form, die Bestand hat, eine Präsenz, die es zu unterstützen gilt – physisch, mental, zeitlich. Zeitgenössische Skulptur und Materie sind für ihn keine zu thematisierenden Kategorien, sondern ein Erfahrungsfeld, ein Feld der Aufmerksamkeit.

Was René Mayer dem Vergänglichen entgegenstellt, ist nicht das Monumentale, sondern die Konsistenz. Nicht Schwere, sondern Gewicht. Nicht Feierlichkeit, sondern Dichte. Seine Skulpturen, selbst die farbenfrohsten, suchen nicht das Auge, sie suchen einen Zufluchtsort. Selbst seine verspieltesten Stücke – die „Viva Viva“ mit ihren glatten, fast tanzenden Formen – entspringen demselben Bedürfnis: formen, verschieben, neu beginnen, zusammenhalten. Man findet darin die Glätte von Treibholz, die Plastizität einer Erinnerung, die improvisierte Freiheit einer Karnevalsmaske, aber ohne Anekdote. Es ist ein Fest ohne Lärm, eine Erscheinung ohne Spektakel.

In den „Marmor & Granit“ nimmt dieser Wille die Form eines Übergangs an: von der einsamen Hand zur kollektiven Hand, vom Modellieren zum Polieren, von der Werkstatt zur Manufaktur. Die Frage ist nicht mehr die nach dem Autor, sondern nach der Form, die sich stabilisiert, ohne ihre Einzigartigkeit zu verlieren. In einer Welt, in der alles produziert, veröffentlicht und reproduziert werden kann, behält René Mayer die ursprüngliche Geste als Ankerpunkt bei. Und selbst wenn das Werk wieder aufgenommen, erweitert oder transponiert wird, bleibt es mit dieser Geste verbunden.

Er hat etwas von einem tiefen Handwerk, im Sinne von Richard Sennett: ‚ein aufmerksames Engagement im Herstellungsprozess, das einen dazu zwingt, seinen Körper, seinen Geist und seine Zeit an das anzupassen, was man gerade tut.‘ René Mayer theoretisiert nicht. Er arbeitet. Er formt, er passt an, er orientiert, er schaut. Was er hinterlässt, sind Formen, die die Prüfung durch die Materie und den Blick bestanden haben – die in die Dauer eingehen.

Was René Mayer bietet, ist also keine skulpturale Botschaft, sondern eine Form der Beharrlichkeit: eine Art, ohne Übertreibung in der Zeit zu existieren. Die Beredsamkeit aufheben, die Ernsthaftigkeit der Formen bekräftigen. Nicht dem Fluss folgen, sondern ihm eine Schwelle setzen – etwas, das nicht vergeht, das zum Verweilen zwingt.

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