Bei René Mayer scheint jedes Gemälde, jede Skulptur, jedes visuelle Fragment aus einem Guss zu sein: Strenge ohne Steifheit, Bewegung ohne Übertreibung, Formtreue ohne Stilabhängigkeit. Seit seinen ersten abstrakten Werken, die er in den 1970er Jahren nach seiner Ausbildung an der Schule für Angewandte Kunst in Basel schuf, erforscht René Mayer das, was zum roten Faden seines gesamten Schaffens werden sollte: die Spannung zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen System und Intuition. Sein Ansatz basiert auf einer plastischen Herangehensweise, bei der bildliche Darstellung und Grafik nicht zwei getrennte Bereiche sind, sondern zwei Seiten derselben Fragestellung. Diese Verbindung zeigt sich in seinem gesamten Werk – in der Serie «Kasten» ebenso wie in «Endlichkeit», «Augen», «Bewegte Erde» oder auch in den Skulpturen der Serien «Viva Viva» und «Marmor & Granit».
„Kasten” – Struktur und Flucht
In dieser Serie setzt René Mayer quadratische Formen, Gitter und kreisförmige Motive ein, um eine einfache Frage zu stellen: Sind wir durch die Strukturen, die uns einschliessen, geschützt oder sind wir im Namen der Sicherheit gefangen? Inspiriert von seinen Erfahrungen mit dem Kastensystem in Indien, bietet die Serie eine visuelle Reflexion über Zuweisung und die Möglichkeit der Flucht.
Die Grafik fungiert hier als Kontrapunkt: Wiederholte Stempel, mechanische Schablonen und regelmässige Raster symbolisieren soziale Starrheit, während durchscheinende Farben, lebhafte Kreise oder freihändige Striche die etablierte Ordnung aufbrechen. Bildhaftes und Grafisches stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern durchdringen sich gegenseitig, um eine ethische Spannung auszudrücken. Jede Leinwand wird zu einer Hypothese: Wie hält die Struktur, und wie gibt sie nach?
„Bewegte Erde” – die Natur unter Druck
Die Serie «Bewegte Erde» überlagert zerknülltes Papier und mineralische Farben und schafft fiktive Landschaften, in denen das bildliche Relief auf geometrische Schnitte trifft. Die Falten erinnern an Brüche und Erschütterungen; die aufgedrängten Dreiecke oder Kreise erinnern an den Druck des Menschen auf die Erde.
Hier steht die bildliche Darstellung (organisches Material, Textur) im Gegensatz zur grafischen Kunst (klare Formen, Symbole der Kontrolle). Die eine drückt natürliche Bewegung aus, die andere Zwang. Die kontrastreichen, sonnigen Farben verstärken diesen Konflikt. René Mayer illustriert die Natur nicht, sondern überträgt sie in eine sensible Kartografie, in der jede visuelle Interaktion einen stillen Kampf zwischen Lebenskräften und auferlegten Rahmenbedingungen widerspiegelt.
„Schleichende Veränderung” – kontrollierter Zufall
Mit «Schleichende Veränderung» führt René Mayer Casino-Chips als zentrales Motiv ein. Sie symbolisieren Zufall, Risiko, Kontrollverlust. Aber ihre Anordnung bleibt kalkuliert: Reihen, Brüche, strenge Wiederholungen. Der Zufall wird zum Kompositionsmittel, niemals zur Aufgabe.
Die Konfrontation zwischen Bild und Grafik ist deutlich: klare Farben und lebhafte Felder koexistieren mit einer fast algorithmischen Struktur. Das Auge schwankt zwischen System und Bruch. Dieses visuelle Spiel bezieht den Betrachter mit ein: Was nimmt man zuerst wahr? Ordnung oder Dissonanz? René Mayer verwandelt das zufällige Motiv in eine plastische Reflexion über unsere Zeit.
„Endlichkeit” – das abgenutzte Bild
In «Endlichkeit» arbeitet René Mayer mit Fotokopien von nackten Körpern, die ausgeschnitten und zu grafischen Collagen zusammengestellt werden. Diese standardisierten, glänzenden Figuren werden eher zu visuellem Material als zu einem Thema. Die Alterung des Papiers, die Verfärbungen und die farbigen Überlagerungen offenbaren die Erosion des Begehrens und das Verschwinden der Erscheinungen.
Hier verschwimmt die Grenze zwischen Bild und Grafik: Durchscheinende Flächen, farbige Kreise und mechanische Raster bedecken die Körperfragmente. Das Bild wird zu einer instabilen Oberfläche, die zwischen medialer Verführung und Auslöschung oszilliert. René Mayer verwendet die Sprache der Grafik, um die Endlichkeit des Körpers ohne Pathos zu hinterfragen, indem er die Darstellung stillschweigend in Frage stellt.
„Viva Viva” und „Marmor & Granit” – von der Ebene zum Volumen
Die bildliche Kohärenz von René Mayer setzt sich in der Skulptur fort. Die «Viva Viva», aus Terrakotta modelliert und anschliessend mit Acrylfarbe bemalt, greifen die Spannungen seiner Gemälde auf: geschwungene, vertikale, dynamische, farbenfrohe Formen. Sie sind einzigartig, nicht reproduzierbar, wie Zeichnungen, die in den Raum projiziert werden.
Im Gegensatz dazu erforscht die Serie «Marmor & Granit» die Beständigkeit: Tonmodelle, die von spezialisierten Werkstätten umgesetzt wurden, schwere, aber präzise Volumen. Auch hier verschmelzen Bildhaftes und Grafisches: Die Skizze wird zu poliertem Material, die Linie wird zu Masse. René Mayer strebt weder Monumentalität noch Zitate an: Er setzt die Richtigkeit einer Form, ihre stille Dichte, ihre Kohärenz im Raum durch.
Fazit – Richtige Form, stille Vision
In all seinen Serien erforscht René Mayer die Beziehung zwischen bildlicher Darstellung und grafischer Kunst als konstitutive Spannung seiner Sprache. Das Bildhafte bietet Materie, Atem und Schwingung; das Grafische bringt Struktur, Kontrolle und Rahmen ein. Ihre Konfrontation erzeugt keinen Gegensatz, sondern eine Dialektik.
Sein Werk, das ein halbes Jahrhundert lang im Verborgenen entstand, bevor es ausgestellt wurde, entzieht sich Schulen und programmatischen Diskursen. Es hinterfragt unser Verhältnis zu Struktur, Zufall, Zeit und Zwang. Ohne zu theoretisieren oder zu verführen, komponiert René Mayer Formen, die sowohl auf der Leinwand als auch im Raum «Bestand haben». Eine diskrete, aber entschlossene Vision, die die Kunst zu einem Ort der Aufmerksamkeit, der Klarheit und des stillen Widerstands macht.